Die Seele

Stille und Schweigen muss sein; wo das Wort vernommen wird, da versteht man es recht.

Nun hat sich die Seele mit den Kräften nach außen zersplittert und zerstreut, in gleichem Maße wird sie schwächer inwendig ihr Werk zu treiben. Denn jede zerstreute Kraft ist unvollkommen.

Darum: will sie inwendig eine kräftige Wirksamkeit entfalten, so muss sie alle Kräfte heim rufen und sie aus den getrennten Dingen herausnehmen in ein inneres Wirken.

Meister Eckhart (1260-1328)

Das Spätmittelalter wurde begleitet von Naturkatastrophen und Kriegen, wie z. B.  der 100jährige Krieg zwischen Frankreich und England, die kleine Eiszeit, die  fast bis Ende des 19. Jahrhunderts dauerte. Diese  verursachte eine Agrarkrise, die für die Bevölkerung  eine erhebliche Mangelversorgung bedeutete. Dadurch wurde sie  für Seuchen anfällig. Mehrere Pestwellen reduzierte die Bevölkerung um ca 30%. Die Menschen reagierten darauf  mit Aufrufen zur Buße, geißelten sich selbst oder suchten mit Judenprogromen die Schuldigen im Außen. In den Städten brach zeitweise die öffentliche Ordnung zusammen, Banden zogen herum, die Prostitution blühte mit der Haltung: Lasst uns das Leben genießen bevor wir tot sind. Begleitet wurde dieser Prozess durch einen Rückfall in Aberglauben und Hexenverfolgung.

Die Kirche verlor immer mehr an Autorität, zum einen  durch den Streit der Päpste (Avignon gegen Rom) . Zum anderen verkauften sie kirchliches Handeln bis zu den einfachen Diensten hin meistbietend, um so ihre eigene üppige  Hofhaltung zu finanzieren.

Staat und Militär gingen ähnlich vor, besonders in Frankreich. Geld beschaffte man sich durch Gewaltaktionen gegen vermögende Juden und indem man den Templerorden zu Ketzern erklärte und das Vermögen einstrich, um den langen Krieg zu finanzieren.

Zum anderen waren eine gestiegene Mobilität und Internationalität zu beobachten: Das Ende der Kreuzzüge brachte eine Öffnung hin  zu anderen Kulturen, z. B. der osmanischen und durch die Seidenstraße hin zur chinesisch /mongolischen Kultur. Die mongolische Vorherrschaft über Asien ging langsam zu Ende  und wurde später von der Ming Dynastie abgelöst.

In diese Zeit hinein begann Meister Eckardt sein Wirken als Dominikanermönch, der in Europa unterwegs war und an vielen Orten seine Predigten hielt.

Das Ziel der Lehre von Meister Eckhart ist die Vereinigung von Gott und Mensch. Diese soll vor allem durch Erfahrung und Vernunft erlangt werden. Also vornehmlich durch die Arbeit an sich selbst. Meister Eckharts Ideenwelt dreht sich im Grunde genommen um zwei Pole: Gott und Mensch, oder genauer: Gott und Seele. Man vermutet sogar, dass er den Begriff der Gelassenheit eingeführt hat, lassen von allem Materiellen, von allem, was im Außen als belastend erlebt wird.

Das Göttliche durch Versenkung in sich selbst erfahren sprach natürlich gegen die  Kirche, die für sich die alleinige  Macht über die Seele der Menschen beanspruchte. Sie ordnete  1260 einen  inquisitorischen Prozess gegen ihn an, zu dem er sich  auf den Weg machte. Er wollte sich dem stellen. Kurz vor Avignon verschwand er, man vermutet, dass er ermordet wurde.

Mit Sicherheit ist diese historische Zusammenfassung sehr verkürzt. Die Verwerfungen sind jedoch auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen zu beobachten.

Und noch einmal Meister Eckhardt:

Stille und Schweigen muss sein; wo das Wort vernommen wird, da versteht man es recht.

Wir haben als Meditierende die Erfahrung gemacht, was Stille und Schweigen bewirken können, besonders in einer Welt, die uns täglich mit ihrem nicht enden wollenden Geplapper erfüllt: Medien wie Smartphone, Tablet und PC nehmen in vielfältiger Form die Aufgabe, gefühlt leere Zeit zu füllen.

Andere, die sich in diesen Medien positionieren, beanspruchen für  sich die Deutungshoheit über das, was wir dort hören. Faktenwissen und Einschätzungen sind oft nur schwer zu unterscheiden und man muss sehr genau hinhören….oder …..abschalten. 

Wieder Meister Eckhardt:

Nun hat sich die Seele mit den Kräften nach außen zersplittert und zerstreut, in gleichem Maße wird sie schwächer, inwendig ihr Werk zu treiben. Denn jede zerstreute Kraft ist unvollkommen.

Mir ist es sehr wichtig zu beobachten, was gerade mit mir geschieht:  Wie höre und verstehe ich das, was mir so mitgeteilt wird? Wie halte ich das Geschnatter aus? Was lese ich, wem höre ich zu, womit beschäftige ich mich? Wie sammle ich mich wieder ein in meiner eigenen Verwirrung? Wie behalte ich meine Urteilsfähigkeit?

Nichts anderes fordert Meister Eckardt: Die eigene Zersplitterung wahrnehmen und anerkennen, die Folgen spüren um  wieder in die eigene Kraft zu kommen.

Meister Eckardt:

Darum: will sie inwendig eine kräftige Wirksamkeit entfalten, so muss sie alle Kräfte heim rufen und sie aus den getrennten Dingen herausnehmen in ein inneres Wirken.

Wir haben alles dazu, was wir brauchen, um wieder in diese Kraft zu kommen: Unseren Atem.

Thich Nhat Tan hat uns dazu ein wunderbares Geschenk gemacht, das mich in der letzten Zeit, besonders unter den jetzigen Verhältnissen, begleitet:

Beim Einatmen: Ich bin angekommen.

Beim Ausatmen: Ich bin zu Hause.

Alle Kräfte heim rufen, damit sie im Inneren wirken können.